Herr Professor Krüger, wie und wann hatten Sie Ihren ersten Kontakt zu KI?
Jörg Krüger: Das geschah 1992, als ich mich mit künstlichen neuronalen Netzen bei der Diagnose von Werkzeugmaschinenachsen beschäftigte. Heute bin ich fasziniert von den enormen Fortschritten durch Deep Learning (Teilbereich des Machine Learning, der neuronale Netze und große Datenmengen nutzt, Anm. des Autors) und Convolutional Neural Networks (laut Wikipedia ein von biologischen Prozessen inspiriertes Konzept im Bereich des maschinellen Lernens, Anm. des Autors), die zum Teil die menschlichen Fähigkeiten in der Muster- und Bilderkennung bei der Verarbeitung von Audio- und Videodaten bereits übertreffen.

Mit einfacheren Strukturen komplexe KI-Systeme beherrschen

Im November 2018 erschien im Münchner Riva-Verlag das Buch Der unterlegene Mensch: Digitalisieren wir uns mit Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern selbst weg?. Was halten Sie von den pessimistischen KI-Ansichten des Autors Prof. Armin Grunwald, der ja als Leiter des Büros für Technologiefolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) einen gewissen Einfluss besitzt?
Jörg Krüger: Ich verstehe seinen skeptischen Blick auf die teilweise Undurchschaubarkeit dieser Systeme, denn deren Komplexität nimmt weiter zu. Wir müssen einfachere Strukturen der Automatisierung schaffen, mit denen sich die Komplexität maschineller Lernverfahren besser verstehen und beherrschen lässt. Es geht darum, ob Produktioner einem lernenden System soweit vertrauen können, dass sie es in der Produktion „scharf schalten“. Weil sich Aus- und Weiterbildung aber oft nicht schnell genug an diese schnelle Entwicklung in der Forschung anpassen, gelingt es uns nur mit erheblicher Verzögerung, entsprechende Fähigkeiten zur Beherrschung der Komplexität aufzubauen und Vertrauen in diese neuen Technologien zu schaffen. Das alles schürt natürlich die Vorstellung, dass der Mensch irgendwann unterliegt.

Das Domänenwissen der Mitarbeiter anzapfen

Und dann steht der Produktioner vor einem Big Data-Gebirge: Wie geht er damit um?
Jörg Krüger: Es kommt sehr darauf an, um welche Art von Daten es sich handelt und welche Zielsetzung der Produktioner verfolgt. So ging es einem Anwender darum, per Bilderkennung 50.000 bis 60.000 Teile in einem Lager zu erkennen und zu verwalten. Bisher übernimmt ein Lagerarbeiter die Arbeit, bei der er die Teile anhand eines Kataloges identifiziert und sortiert. Wir ließen von jedem Teil nur eine begrenzte Anzahl von Aufnahmen machen, die zum Erfassen einer neuronalen Netzstruktur eigentlich nicht ausreichen. Doch wir stellten fest, dass sich mit vortrainierten Netzen auf Basis nichtindustrieller Bilddaten in Kombination mit wenigen industriellen Bauteildaten schon früh akzeptable Erkennungsquoten für Assistenzfunktionen erzielen lassen. Das KI-System arbeitet dann als halbautomatischer Assistent, der dem Lagerarbeiter jeweils die fünf wahrscheinlichsten Teile anzeigt. Dank dieser Assistenz arbeitet er nun deutlich effizienter und genauer. Das funktioniert aber nur, wenn man die Prozesse sehr genau kennt. Daher lautet meine Botschaft: Nicht nur in Hard- und Software investieren, sondern auch systematisch das so genannte Domänenwissen der Produktioner nutzen. Menschen müssen außerdem lernen, Vorgänge in der Fabrik zu bewerten und zu entscheiden, welche Aufgaben die KI übernimmt. Generell ist das Einbeziehen des Domänenwissens aus der Produktion elementar, um neue Wertschöpfungspotenziale schnell und systematisch zu identifizieren.

Daten sind digitaler Goldstaub

Clevere Assistenz ist ein Aspekt, was hat KI noch zu bieten?
Jörg Krüger: Die in den Firmen erzeugten Daten sind für mich digitaler Goldstaub. Viele Unternehmen sind sich aus meiner Erfahrung noch nicht bewusst, welche Wertschöpfungspotenziale sie damit erschließen können. Die Werkzeuge für das maschinelle Lernen werden immer leistungsfähiger. In der Produktion sollten wir nun systematisch die Daten und das Domänenwissen verbinden, um die Prozesse weiter zu verbessern und effizienter zu werden. Dieses Thema möchte ich mit den Kollegen der WGP forciert angehen. Wir sollten z.B. unseren Fokus nicht wie früher auf die Erhöhung der Erkennungsquoten mithilfe von maschinellen Lernverfahren richten, sondern einerseits systematischer als bisher die vorhandenen Produktionsdaten auf ihr Potenzial zum maschinellen Lernen analysieren und andererseits auch systematischer die daraus resultierenden Potenziale zur Effizienzsteigerung in der Produktion ableiten. Ich empfehle dazu das Youtube-Video des kanadischen Wissenschaftlers Ajay Agrawal beziehungsweise sein Buch Prediction Machines: The Simple Economics of Artificial Intelligence. Hier kann ein Automatisierer oder Produktioner die Chancen von KI aus der ökonomischen Perspektive kennenlernen, um den digitalen Goldstaub im eigenen Unternehmen zu entdecken. Es entstehen plötzlich völlig neue Wertschöpfungsmodelle und Nischen für kleine Unternehmen sowie vor allem für Start-ups.

Welche Rolle spielen Sensoren?
Jörg Krüger: Die „Sensorisierung“ ist in der Regel der erste Schritt, um Daten für das Lernen zu gewinnen. Je leistungsfähiger und günstiger die Werkzeuge für das maschinelle Lernen sind, umso wertvoller werden die Daten, mit denen dies geschieht. Gerade im Bereich der Sensorisierung sind ja durch die Forschung und Entwicklung in Bezug auf Industrie 4.0 große Fortschritte zu sehen – eine gute Voraussetzung, um jetzt den nächsten Schritt zum maschinellen Lernen in der Produktion zu machen.

Systematische KI-Lösungen dank deutscher „Ingenieur-Denke“

Doch wie sehen unsere Chancen aus gegenüber Ländern wie China, die ja enorme Beträge in KI stecken?
Jörg Krüger: Die Investitionen in KI-Infrastrukturen, die gerade aus China bekannt werden, sind in der Tat beeindruckend: kaum vorstellbar, hier aus Deutschland in der gleichen Dimension mithalten zu können. Im internationalen Wettbewerb sehe ich jedoch für Deutschland eine gute Zukunftschance darin, mit strukturierter Ingenieur-Denkweise an das Thema der industriellen Nutzung von KI bzw. dem maschinellen Lernen heranzugehen. In dieser Form sollten wir in Zukunft auch unsere weltweit sehr gute Position im Bereich der Automatisierung weiterentwickeln und erhalten können.

Was reizt Sie – nicht nur mit dem Blick des KI-Interessierten und forschenden Produktioners – besonders an der EMO Hannover 2019?
Jörg Krüger: Interessant werden sicher Exponate von WGP-Kollegen sein. So hörte ich von einem Institut, dass er etwas sehr Spannendes aus dem Bereich Mustererkennung an Werkzeugmaschinenantrieben ausstellen wird. Mehr darf ich nicht verraten. Ebenso dürfte sich eine Stippvisite zu manchen Maschinenherstellern und Automatisierungsunternehmen lohnen.

Herr Professor Krüger, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Trumpf: KI-Einsatz in der Produktion

„Künstliche Intelligenz ist kein Job-Killer, sondern ein weiterer konsequenter Schritt, um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und den Wohlstand hier abzusichern“, sagt Dr. Thomas Schneider, Geschäftsführer Entwicklung des Geschäftsbereiches Werkzeugmaschinen der Trumpf GmbH + Co. KG, Ditzingen. „Unser über Jahrzehnte gesammeltes Wissen im Maschinenbau ist für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Industrie das A und O. Diese Chance müssen wir nutzen.“ Die Schwaben setzen KI bereits in die Tat um: 25 Mitarbeiter sorgen bei Trumpf bereits für die gruppenweite Abstimmung und Transparenz der Aktivitäten zu diesem Thema. So analysiert KI zum Beispiel in einem Laservollautomaten die zunächst missglückte, dann aber erfolgreiche Entnahme von geschnittenen Blechteilen und automatisiert die Vorgehensweise mit Hilfe der analysierten Daten. Die Methode kann Trumpf dann auf Maschinen dieses Typs übertragen. Bewährt hat sich KI auch in der eigenen Produktion: Sensoren in der Maschine erfassen bei einem kurzen Test große Mengen an Daten und senden sie über die Steuerung in die Cloud, in der die KI-Lösung sie automatisch analysiert. Eine geschickte Kombination aus Simulations-, Mess- und Analyseverfahren ermöglicht so die Überprüfung der Maschine in unzähligen Betriebszuständen. Stimmt in den Daten etwas nicht, erkennt sie nicht nur den Fehler, sondern durch ihre vorherigen Analysen auch, wie er sich beheben lässt.

Autor: Nikolaus Fecht, Journalist aus Gelsenkirchen
((Umfang: rund 8700 Zeichen inkl. Leerzeichen))

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